Core to extremity - biomechanisch der Schlüssel

Wer Functional Fitness und vor allem CrossFit betreibt, ist sicher schon einmal über dieses „core to extremity" gestolpert. Oder er bzw. sie wurde vom Trainer beispielsweise bei einem Thruster darauf hingewiesen, die Hüfte am Ende der Bewegung zu öffnen und die Kraft der Beine zu nutzen. Das Prinzip, die Kraft in den stärkeren Muskelgruppen zu erzeugen und in einem sinnvollen Ablauf in die schwächeren Muskelgruppen überzuleiten, ist elementar für Functional Fitness.

(Einen vergleichbar einfachen Begriff, wie das im englischsprachigen Raum gebräuchliche „core to extrimity", für das zugrundeliegende Prinzip habe ich in der deutschen Sprache leider nicht gefunden, bzw. er ist mir nicht bekannt. Deshalb bleibe ich bei dem Begriff „core to extremity".)

„core to extremity" ist das Prinzip, die Kraft in den stärkeren Muskelgruppen zu erzeugen und in einem sinnvollen Ablauf in die schwächeren Muskelgruppen überzuleiten. Ein gutes Beispiel ist das freistehende Langhantel-Schulterdrücken, die Shoulder Press oder auch Military Press. Führe ich das korrekt mit einem feststehenden Stand aus, so werde ich weniger Gewicht drücken können, als wenn ich eine Push Press ausführe - also die Beine für die Beschleunigung des Gewichtes nutze. Im Bodybuilding als „Abfälschen" verschrien, taucht diese Bewegung doch immer wieder im Alltag bei jedem von uns auf. Jeder hat schon einmal eine schwere Last auf den Schultern getragen und wollte diese dummerweise an einem höheren Punkt abladen - und er hat intuitiv genau die oben beschriebene Bewegung gemacht. Dieses Prinzip erkennt man bei den verschiedensten Sportarten, die Energie vom Körper auf einen Gegenstand übertragen wollen, sei es der Golfer, der Baseballspieler oder die Speerwerferin.


Leider geistern auch im englischsprachigen Raum die unterschiedlichsten Begriffsdefinitionen für den „Core" herum, je nach dem über welche Quelle man stolpert. Aber im Grundsatz lässt sich das aus meiner Sicht am besten so definieren: der „Core" beschreibt alle Muskeln und Muskelgruppen, die in Verbindung mit der Hüfte stehen. Dazu gehören von der Bauch- und Rückenmuskulatur über die Gesäß- und Hüftmuskulatur auch die Oberschenkelmuskulatur.


Die menschlichen oberen Extremitäten sind dafür geschaffen fein abgestimmte Bewegungen durchzuführen. Die Voraussetzungen sind durch die große Anzahl motorischer Einheiten und hohen Anzahl von Muskelspindeln gegeben. Die oberen Extremitäten können aber aufgrund des geringen physiologischen Querschnitts keine großen Muskelkräfte erzeugen. Demgegenüber besitzen die Muskeln der Hüfte und der Beine große physiologische Querschnitte, aber eine vergleichsweise niedrige Anzahl vielfaseriger motorischer Einheiten und eine geringe Dichte der Muskelspindeln. Die erzeugten Bewegungen charakterisieren sich durch große Energien, aber unpräzise Ausführung (Quelle: Arbeitsmaterial zur Vorlesung „Grundlagen der Bewegungslehre und Biomechanik", Prof. Dr. K. Wiemann / Dr. T. Jöllenbeck, 6. Korrigierte und erweiterte Auflage, Bergische Universität Wuppertal, Wintersemester 1998/99).


Man kann sich dies am besten am Beispiel eines Baseballspielers vor Augen führen: Der Spieler, der den Ball mit seinem Schläger schlagen soll (im Baseball als „Batter" bezeichnet), erzeugt mit seinen unteren Extremitäten die notwendige Energie für die Beschleunigung des Schlägers, durch die feinmotorischen Strukturen der oberen Extremitäten wird diese Energie dann tatsächlich auf den Schläger übertragen, der Schläger auf den sehr schnell geworfenen Ball gesteuert.


Aus diesem strukturellen Unterschied zwischen den oberen und unteren Extremitäten und dem notwendigen „Übertragen" von Energie resultiert das Prinzip zur Kinetion und Modulation von strukturspezifischen Ganzkörperbewegungen. Prof. Dr. K. Wiemann und Dr. T. Jöllenbeck beschreiben dies in einem „Merksatz": „Soll im Laufe einer sportmotorischen Fertigkeit (einer Arbeitsbewegung) eine möglichst hohe Zielgenauigkeit erreicht werden, müssen die Muskeln der Hüfte und der Beine die zur Ausführung der Bewegung notwendige kinetische Energie schaffen (Kinetion), während nach der Übertragung der Energie durch die Rumpfmuskeln auf die Schultern und Arme (Fixation) die Muskeln der Arme die Energie auf das zutreffende Maß und die Bewegung auf die zutreffende Richtung abstimmen müssen (Modulation)."


Prof. Dr. K. Wiemann und Dr. T. Jöllenbeck definieren die Begriffe Kinetion, Fixtion und Modulation wie folgt: Kinetion: Erzeugung der zur Bewegungsausführung notwendigen Energie durch Kontraktion der Agonisten (Kinetoren) Fixation: Feststellen von Gelenken und Gelenksystemen durch isometrische Kontraktion der Agonisten und Antagonisten (Fixatoren) zur Energieübertragung Modulation: Feinabstimmung der Energie auf das notwendige Maß durch wechselnde Kontraktion der Agonisten und Antagonisten (Modulatoren). Der "Core" ist somit die Verbindung von Kineatoren und Fixatoren.


Funktionelle Bewegungen werden in den meisten Fällen aus dem Core erzeugt. Das betrifft vor allem natürlich die Bewegungen, die die Beinmuskulatur nutzen, beispielsweise der Clean, der Snatch, der Kettlebell Swing oder Wall Balls - um nur ein paar zu nennen.


Am besten lässt sich das am Thruster oder Wall Ball verdeutlichen: aus der tiefen Kniebeuge wird das Gewicht durch die Oberschenkel und Gesäßmuskulatur (die Kineatoren) beschleunigt. Mit Hilfe des Rumpfmuskulatur (den Fixatoren) wird das Gewicht nach oben gebracht und die erzeugte Energie wird auf die Arme (die Modulatoren) übertragen, die sich dann strecken können und beispielsweise dem wall Ball die Richtung geben können bzw. die Langhantelstange steuern. Wird dieses Prinzip missachtet, führt das dazu, dass beispielsweise die Kraft beim Wall Ball nicht ausreicht, den Ball hoch genug zu bekommen. Typisch ist der Fehler, dass zu früh mit der Armextension gestartet wird - sprich: die Energie aus den Beinen kann noch gar nicht über die Rumpfmuskultur bei den Armen angelangt sein. Wer nicht unglaubliche Schultermuskeln und Oberarme besitzt, wird dies nicht lange durchhalten können.


Ein weiteres wichtiges Element ist das Öffnen der Hüfte. Die Energieerzeugung der Kineatoren ist erst abgeschlossen, wenn die Hüfte vollständig geöffnet ist und die Gesäßmuskulatur voll aktiviert ist. Starten die Arme bevor die Hüftbewegung abgeschlossen ist, wird die Kraftkette an dieser Stelle schwächer. Das heißt, das mögliche Kraftpotential wird nicht voll ausgenutzt. Wer den Burgener Warm Up schon einmal geübt hat, der kennt den ersten Teil „Down & Up", bei dem die Trainingsklasse antwortet „Power through the middle". Diese Übung lässt einen das oben Beschriebene wunderbar spüren. Wem die dabei benutzte PVC-Pipe zu leicht ist, sollte sich mal etwas Zeit mit dem Clean Pull als Einzelübung gönnen. Wenn man hier die Hüfte sauber einsetzt und der Kraftübertrag im Rumpf stimmt, dann spürt man wunderbar die erzeugte Energie in den Schultern ankommen.


Aus meiner Erfahrung mit mir selbst und mit Kampfkunstschülern, halte ich den Russian Kettlebell Swing für ideal, dieses Prinzip zu verstehen und zu spüren - also letztendlich auch zu begreifen. Denn oft weiß man es theoretisch, kann aber die Muskulatur nicht ansteuern, da man sich die Bewegung aufgrund ihrer Komplexität nicht bewusst machen kann und nicht weiß, wo man nachsteuern sollte. Der Russian Kettlebell Swing (mit leichtem Gewicht und sauberer Technik ausgeführt) lässt einen dies wunderbar spüren, da der Bewegungsrahmen der Kineatoren nicht so groß ist wie beispielsweise bei einem Thruster und die Modulatoren keine komplexen Bewegungen ausführen müssen (sie müssen nur die Kettlebell am wegfliegen hindern).